Der Fall Bergmann

Kriminalobersekretär Karl Bergmann, Polizeibeamter in Frankfurt am Main seit 1920 und Sachbearbeiter der Kripo ab 1930, sieht sich im Juli 1946 einem Spruchkammerverfahren, der sogenannten "Entnazifizierung" ausgesetzt. Er fühlt sich ungerecht behandelt und unschuldig, denn nach seinen Vorstellungen hat er doch mit den Gräueltaten der Nazis nichts zu tun. Er, Bergmann, war doch lediglich ein aufrechter Kripobeamter im 1. K, zuständig für die Bearbeitung von Raubdelikten, aber auch für Todesursachenermittlungen!

 

Jedoch weicht die Empörung unangenehmen Selbsterkenntnissen, denn der Ankläger der Spruchkammer ist gut vorbereitet und stellt dem Kripomann gezielte Fragen, die dann doch eine - von Bergmann wohl verdrängte - Verstrickung in das Unrechtssystem der Nazis heraus-arbeiten. 

 

Das Buch untergliedert sich in zwei Handlungsebenen: Zum einen die zweitägige Verhandlung vor der Spruchkammer, geschrieben im Präsens. Zum anderen aber werden die Leser in die Gedanken und Erinnerungen des Karl Bergmann geführt, die ihrerseits im Perfekt gehalten sind.

 

Karl Bergmann ist eine erfundene Person. Die von ihm bearbeiteten und im Buch beschriebenen Fälle sind aber - wie auch alle sonstige geschilderte historische Vorgänge - sämtlich recherchiert und authentisch. An ihnen wird deutlich, dass spätestens mit der Vereinigung aller Sicherheitsorgange (und damit auch der Kripo) unter dem Dach des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA, Leiter Heinrich Himmler) die gesamte Polizei zu unschönen Aufträgen herangezogen und missbraucht wurde. Das Festsetzen von missliebigen Personen in KZs und andere für den Nazi-Staat typische Aufgaben wurden nämlich keineswegs nur von der Gestapo oder der SS verwirklicht ...

 

Das Buch kostet 14,- Euro zzgl. Versand.

Leseprobe:

1. Ein Einsatz des Bergmann wird im Spruchkammerverfahren thematisiert:

 

 

Er richtet sich in seinem Stuhl auf, legt beide Hände flach vor sich auf den Tisch und blickt dem Anklagevertreter in die Augen, den er ausdrücklich anspricht, um Kaspar bewusst zu ignorieren.

   „Ja, Herr Dr. Arnold“, sagt er mit leiser Stimme, „ja. Ich muss Ihre Frage ganz einfach mit ja beantworten. Zwar war ich nicht an der Verbringung von Asozialen, von BuGs oder von haftunfähigen Personen in die KZs beteiligt. Aber in einem Falle musste ich …“

   Bergmanns Stimme versagt, und es ist kein Theater, das er hier vorspielt. Ihm ist wirklich eben im Moment klar geworden, dass er nicht nur irgendein kleines Rädchen im System war, sondern dass man ihm nun mit einiger Berechtigung vorwerfen konnte, er habe Menschen in die Maschinerie der Vernichtung geliefert. Appel macht eine aufmunternde Handbewegung:

   „Ja, Herr Bergmann? Fahren Sie fort!“

   Bergmann räuspert sich und drückt nochmals das Kreuz durch.

   „Herr Vorsitzender, ich muss die Frage des Anklagevertreters dahingehend beantworten, dass wir – also auch ich – Zigeuner selektierten, die dann aus der Kruppstraße in ein KZ, vermutlich Birkenau, transportiert wurden. Ja, das war ich. Andere auch, aber ich war dabei.“

   Ihm schießt ein Kapitel der Vernehmungslehre durch den Kopf, wonach ein Täter sich lange weigert, ein Geständnis abzulegen. Wenn er dann aber damit angefangen hat – zum Beispiel, weil die Fakten nichts anderes zulassen – dann läuft es plötzlich wie am Schnürchen und wirkt fast erleichternd auf den Delin-quenten. Nur dass er eben nicht der Vernehmende ist, sondern der Vernommene. Erneut fixiert sein Blick den Anklagevertreter.

 

   „So war es. Wir hatten im Präsidium eine Liste von mehreren hundert Zigeunern aus der Kruppstraße 100, die wir erlassgemäß mit unseren Erkenntnissen abgleichen mussten. Also Klartext: Wir mussten eine Liste derjenigen Zigeuner erstellen, die als asozial zu bezeichnen waren.“ (...) Bergmann wendet sich erneut an den Anklagevertreter.

   „Ja, Herr Dr. Arnold. Ich war mit anderen Kollegen zusammen daran beteiligt, im April 1943 insgesamt einhundert Zigeuner gemäß einer Liste des Lagers Kruppstraße 100 zu benennen, die dann über den Südbahnhof Frankfurt am Main nach Osten deportiert wurden. Das genaue Datum ist mir nicht erinnerlich, lässt sich aber bestimmt über die Aktenlage recherchieren. Auch ist mir das Ziel der Deportation und das Schicksal der Deportierten nicht bekannt, aber gerüchteweise hieß es damals KZ Birkenau. Welche Bedeutung das für diese Zigeuner hatte, habe ich allerdings erst eine geraume Zeit nach dem Krieg erfahren.“

   Bergmann blickt auf Fräulein Kissel und wartet, bis das Klappern ihrer Schreibmaschine verstummt. Nahezu fürsorglich erkundigt er sich, ob sie alles mit-schreiben konnte. Als sie bejaht, fährt er fort:

   „Und das war so, wie es war, ich will da gar nicht drumherum reden. Aber weitere vorwerfbare Sachverhalte werden Sie bezüglich meiner Person nicht finden, Herr Dr. Arnold.“

 

2. Verfassen eines Ermittlungsberichts nach dem Freitod einer Jüdin:

 

 

Wir verteilten die Aufgaben. Ich schrieb den Bericht zur Leichensache Judith Ochs, Weißbrod übernahm die Verständigung der Staatsanwaltschaft und schließlich der Gestapo, die damals noch im gleichen Gebäude ihre Diensträume hatte. Nach wenigen Minuten stand einer ihrer Beamten im Büro. Er grüßte mit erhobener rechter Hand und stellte sich vor:

   „Heil Hitler, Kriminalsekretär Bongratz. Sie haben mich angerufen.“ Weißbrod und ich hoben ansatzweise ebenfalls den rechten Arm.

  „Kriminaloberassistent Weißbrod, das ist mein Kollege, Kriminalsekretär Bergmann. Wir waren eben am Dom, um eine Leichensache aufzunehmen. Eine junge Frau ist vom Domturm gesprungen, der Spurenlage nach von der ersten Galerie, wo wir einen passenden Schuhabdruck gefunden haben. Fallhöhe summa summa-rum 40 Meter. Wie eben schon am Telefon gesagt: Sie ist … sie war Jüdin und hatte diesen Abschiedsbrief bei sich.“ Er händigte Bongratz das Beweisstück aus, der den Brief kurz überflog, bevor er ihn zusammenfaltete und einsteckte. Als wolle er unseren Bericht diktieren, gab er kurz Anweisungen:

   „Allgemeine Verzweiflung über die Lebensumstände, Spurenlage eindeutig, Fußabbdruck auf der Brüstung und so weiter. Sie formulieren das schon richtig. Der Wisch hier“, er deutete auf seine Tasche, „spielt keine große Rolle. Fragen?“

    Weißbrod sah betreten auf seine Torpedo-Schreibmaschine. Auf den Gedanken, Bongratz dahingehend zu korrigieren, dass wir keinen Fuß-, sondern einen Schuhabdruck gefunden hatten, kam er genauso wenig wie ich. Für den Gestapo-Mann schien die Sache ohnehin erledigt:

   „Na also! Von mir aus können Sie bei der Staatsanwaltschaft anregen, dass die Leiche alsbald zur Beerdigung freigegeben wird. Heil Hitler!“ Sprachs und verschwand wieder.

   „So, Karl, da weißt du ja, was zu schreiben ist, oder?“

   Ohne eine weitere Antwort fing ich wieder an zu tippen. 

 

3. Karl Bergmann diskutiert mit seiner Frau Lilo

 

 

Ich überlegte einen Moment. Wie weit sollte ich mit meinen Schilderungen gehen? Entschlossen legte ich nach: „Meinst du, es wäre meine Vorstellung von Polizeidienst, wenn ich mir Formulierungen überlegen muss, die die Gestapo nicht auf den Plan ruft? Was glaubst du denn?“ Ich sammelte mich einen Moment, und überraschenderweise redete mir Lilo nicht dazwischen. „Nein, das ist natürlich auch für mich völlig anders, als ich es vor mehr als zehn Jahren kennengelernt habe. Und mir passt weiß Gott nicht alles, das kann ich dir sagen. Wir haben jetzt einen SA-Mann – ausgerechnet! – als Polizeipräsidenten. Der letzte bürgerliche Präsident wurde von einem SA-Mann ersetzt, der dem Röhm dann auch bald zu milde war. Also schickte man ihn in die Wüste und setzte den jetzigen hin, der die Verwirklichung der nationalen Revolution garantieren will.“ Ich musste eine Pause machen. Lilo schaute mich ernst an.

„Karl, so was erzählst du ja nie daheim.“

„Ich weiß. Ist ja auch schon schlimm genug, dass ich mich damit herumärgern muss.  Aber jetzt muss ich dich fragen – wie lautet die Alternative?“ Ich hielt die linke Hand nach oben und spreizte die Finger ab, um sie mit dem rechten Zeigefinger von oben nach unten abzuzählen. „Du kannst dir aussuchen, was dir am besten gefällt. Möglichkeit a)“, und ich berührte den linken Zeigefinger, „ich verlasse die Polizei auf eigenen Antrag. Damit gelte ich per Gesetz als politisch unzuverlässig und werde nirgendwo – ich wiederhole: nirgendwo! – mehr eine Anstellung finden. Keiner darf, keiner würde mich mehr nehmen. Ich könnte versuchen, bei meinem Vater als Dachdecker unterzukommen. Wovon ich aber nichts verstehe.“ Ich berührte den Mittelfinger. „Möglichkeit b) Ich beschwere mich bei meinen Vorgesetzten, ich prangere Missstände an. Endstation wie unter a). Oder schlimmer.“ Ringfinger. „Möglichkeit c) Ich versuche, mit meiner Familie das Land zu verlassen. Wohin? Mit welchem Geld? Mit welchen Aussichten? Wer nimmt uns?“ Kleiner Finger. „Oder Möglichkeit d): ich mache weiter in meinem Beruf, versuche ein guter Kriminalist zu sein, sichere Spuren, mache Vernehmungen, nehme Räuber und Mörder fest und führe sie bei der StA … also bei der Staatsanwaltschaft vor. So. Lösung a), b), c) oder d)? Oder fällt dir noch eine Lösung e) ein? Mein Daumen wäre noch frei.“

 „Karl, ich …“ Eine Träne rann über ihr Gesicht. Die eben noch aufzählenden Finger wurden nun eingesetzt, um sanft über ihre Wangen zu wischen. Hatte ich ein Taschentuch dabei? Bestimmt, aber so war es schöner. Lilo setzte erneut an:

 „Karl, ich weiß doch, was du meinst. Ich habe ja auch keine Alternative in petto. Aber andererseits – das geht doch alles nicht, oder?“ Wir waren inzwischen in der Adolf-Hitler-Anlage nach links abgebogen und an der Mainzer Landstraße angekommen.